Eure Geschichten

Das Le­ben geht wei­ter

Erinnerungen

Langsam einatmen und ausatmen.

Ich versuche, mich auf diese zwei Vorgänge zu konzentrieren. Nicht mehr, nicht weniger. Doch es funktioniert nicht. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu ihm. Jack. Ich spüre, wie mein Atem immer schneller geht, obwohl ich mich nicht bewege. Ich sehe, wie sich Jack zu mir runter beugt, mich umarmt. Er lacht. Ich lache. Wir drehen uns so wie ein schnelles Karussell. Er hält meine Hände. Ich halte seine. Mir wird es schwindelig, bleibe stehen und falle beim nächsten Schritt um. Er lacht und hilft mir auf. Ich lache. Wir kreisen weiter. Mir wird schwindelig…

„Mädchen!“, ruft jemand aus der Ferne, „atme ruhig ein und aus“. Ich werde geschüttelt und mir wird auf den Rücken geklopft. Und da bin ich. Ich versuche die Luft von draußen einzusaugen. Ich bin begierig nach ihr. Sie ist so verlockend, doch ich kann nicht. „Zu schwach.“ Dann fangen wir an uns wieder zu drehen. Drehen. Schwarz.

Mein Brustkorb schmerzt. Der Druck lässt nach und kommt wieder. Ich atme aus und ein. Aus und ein. Es fühlt sich gut an. Meine Kehle ist trocken, aber es fließt Luft durch meinen Mund. Ich öffne die Augen. Es ist hell. Ich schaue mich um. Sofort wird mir klar, dass ich in einem Krankenwagen liege. Das letzte Mal war ich hier gewesen, als… Ich rufe mir die Worte des Psychiaters in den Sinn: „Wenn du an ihn denkst, bekommst du Panikanfälle, richtig? Das Leben wird ohne ihn weitergehen, …“. So fange ich meinen Gedankenzug von neuem an. Ich lag hier vor 3 Monaten zuletzt. Damals war es ein Unfall gewesen. Und jetzt? Was ist aus mir geworden? Eine depressive und aggressive Teenagerin. Etwas Nasses rennt mir die Wange herunter. Diesmal wische ich sie nicht mit meiner Hand weg und lasse den Tränen für einen Moment freien Lauf, in dem sie strömen und tanzen können.

Im Krankenwagen

„Hey, Phoenix! Alles wird gut!“, der Sanitäter lächelt mir aufmunternd zu. „Hallo, Korbi!“, mehr bringe ich nicht heraus. Damals war er unser bester Spielkamerad gewesen. Jack, Korbi und ich. Mich regt auf wie er jetzt ruhig lächelt, als wäre ihm nichts passiert. Immerhin war sein bester Freund vor 3 Monaten gestorben. Ich setze mich auf, will Korbi die Geräte entreißen. Er hatte mein Leben gerettet und Jack war gestorben. Es ist zu viel. Meine Atemzüge werden schneller, aber ich bekomme weniger Luft. Ich sehe Jack neben mir auf der Trage. Er lächelt nicht. Sein T-Shirt ist rot wie Blut. Seine Haare sind schwarz wie Ebenholz. Sein Gesicht ist weiß wie Schnee. Er schaut mir ein letztes Mal in die Augen, stöhnt „Bye, Phe!“ und ist dann so tot wie Schneewittchen im Sarg. Ich greife nach ihm, um ihn bei den Lebenden zu behalten. Doch meine Hand ist zu kurz. Es scheint, als würde sich alles um die greifende Hand drehen. „Sie ist zu schwach“. Korbi.

 Ich schaue mich um. Ich bin immer noch im Krankenwagen. Diesem doofen Krankenwagen! „Nein!“ schreie ich. Ich möchte mich befreien, doch irgendwer hat mich an die Liege angebunden. Korbi! Er blickt mir bekümmert in die Augen. „Manchmal wünsche ich, wir wären jung und sorglos.“, stellt er fest, „Ich denke an das kleine, abenteuerlustige Mädchen, ihren großen, liebenden Bruder und an den kleinen, schüchternen Jungen. Sie haben sich alle so …“ Er unterbrach sich selbst, denn er hatte meine wahrscheinlich wütende und verzweifelte Mine erkannt. Ja, wir hatten uns beide ein wenig verändert, aber Jack war jetzt tot. Jetzt. Letzte Woche. Gefühlte 100 Jahre. Immer. Ich höre dem Piepen der Geräte zu. Es ist Nerven auftreibend. Warum bin ich noch hier? Es ist alles in Ordnung mit mir. Ich probiere, trotzdem noch einmal zu sprechen. Ich will nicht aufgeben. Wenn sie mich nicht gehen lassen, wird sich Mama noch mehr Sorgen um mich machen. Sie wird sich mit Papa streiten. Die früher unsichtbare Kluft zwischen den beiden wird noch tiefer werden. Ich dazwischen. Korbi macht mich noch wütender. Ich habe das Gefühl, dass er mich absichtlich ignoriert. Deshalb strampele ich mit den angebundenen Beinen und Füßen so gut es geht. Warum bin ich angebunden wie ein Verbrecher oder Schwein vor dem Schlachten? Korbi schaut mich mitleidig an. Scheintraurig! „Es tut mir leid, Phe“.

 Einatmen. Ausatmen. Doch meine, Jacks, Erinnerung tritt wieder in den Vordergrund.

„Es tut mir leid Phe. Ich habe es nicht so gemeint“. Jack beugt sich über meinen kleinen Körper. Sein kleiner Arm lehnt an meiner Schulter. Meine letzten Tränen fallen in seine junge Hand. Dann lächele ich fröhlich. Er lächelt. Er reicht mir seine junge Hand, zieht mich beim Aufstehen hoch und wir machen das, was wir immer machen, wenn wir glücklich sind: Wir drehen uns so wie ein schnelles Karussell. Er hält meine kleinen Hände. Ich halte seine. Ich kichre. Er kichert. Wir werden schneller. Drehen. Stich. Schwarz.

Ich bin schwach. „Zu schwach“. Ich öffne meine schweren Lider. Es ist hell. Diesmal bin ich in einem Krankenhauszimmer. Allein. Ich schaue auf meine Hände: angebunden. Es macht mich unruhig. Ich bin immer noch ein freier Mensch! Auf meinem Nachttisch liegt ein Zettel. Ich versuche ihn zu entziffern. Es fällt mir schwer.

Phoenix, es tut mir nicht leid. Du tust mir leid. Seit dem Tod von Jack bist du so anders. Nicht du selbst. Ich kann es verstehen. Du und Jack waren die liebsten Geschwister. Und eure Eltern untrennbar. Aber es kann so nicht weitergehen. Denke daran, wonach du benannt wurdest, Phoenix. Ich habe deinen Eltern bescheid gegeben. Sie finden es okay, dass du für einen Monat hier bist. Du weißt schon: die Drogen, Panikattaken und plötzlichen Wutausbrüche. DAS LEBEN MUSS WEITERGEHEN!

Korbi.

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Eure Kommentare

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Cool!

An Zubayr und Fay_11: Danke 🤩 

Oh Mann, so gut und traurig!!! Diese GESCHICHTE IST DER ABSOLUTE OBERHAMMER!

AN Tigi: Danke! 😻

Toll!Und traurig!

Eine echt traurige, aber auch eine mega geschriebene Geschichte! Weiter so!

Ich wollte eigentlich keine Geschichte beginnen 😂 @Redaktion.

Das ist nur eine Kurzgeschichte... 😮