Der Mann an der Tank­stel­le

Das Fahrrad hielt vor dem alten Schuppen. Auf dem Fahrzeug saß ein Junge, 11 oder 12 Jahre alt, der schwarze Haare hatte. Es war Ralf. Ralf war ein Einzelgänger, den keiner in der Klasse leiden konnte. Er hatte nur wenige  Freunde: Jasper war einer davon. Und genau den suchte Ralf. Jasper war seit Tagen nicht mehr zur Schule gekommen. Also war Ralf den Spuren von Jaspers Fahrrad gefolgt - man erkannte am Muster sofort, das sie Jaspers Fahrrad gehörten - und kam nun an diesem alten Schuppen an. Na ja - eigentlich war es gar kein Schuppen, um genau zu sein, sondern eher ein heruntergekommenes Haus. Ralf ließ das Fahrrad fallen und ging durch den Eingang, der noch nicht einmal mehr eine Tür hatte. Drinnen roch es moderig, und mit jedem Schritt knarrten die Dielen. Nach einem längeren Rundgang, fand der Junge ein Buch, auf dem Jasper stand. Ralf beugte sich hinunter und begann, in dem Buch zu lesen:

Mein geheimes Tagebuch - FINGER WEG!

Ralf wollte der Anweisung im Buch folgen, allerdings war er zu neugierig, um das Buch jetzt wegzulegen. Also las er weiter.

Freitag, der 13.

Das war ja noch gar nicht solange her!, dachte sich Ralf. Nun war es Freitag, der 20. - also nur eine Woche später! Da das Buch also noch aktuell zu sein schien, stand dort bestimmt auch etwas über das rätselhafte Verschwinden... Die nächsten Zeilen lauteten:

Heute wollte ich mit meinen Eltern in den Baumarkt fahren, um die neuen Tapeten für das Wohnzimmer zu kaufen. Am Anfang lief noch alles ganz normal ab, doch das änderte sich schnell. Wir fuhren durch einen großen Tannenwald, da dieser Weg kürzer war. Plötzlich fing das Auto feuer, und explodierte wenige Sekunden später. Zum Glück konnten wir uns alle noch rechtzeitig retten, und das Holz der Bäume fing kein Feuer. Doch mein Vater hatte sich beim Aussteigen in der Hektik den Fuß gestoßen und humpelte. Meine Mutter meinte, sie und er sollten beim Unfallort bleiben und ich sollte die nächste Tankstelle aufsuchen, um Hilfe zu holen. Ich machte mich auf den Weg, obwohl es bereits dämmerte. Meine Schritte knisterten im Holz. Es war gruselig. Dennoch ging ich weiter. Irgendwann hatte ich den Wald endlich verlassen und gelangte zu einer Tankstelle, die noch geöffnet hatte. Als ich eintrat, saß ein freundlicher Mann an der Kasse, der sofort den Rettungsdienst rief. Er sagte, ich dürfte mir etwas Süßes holen - umsonst! - da ich bestimmt Angst hatte im Wald - hatte ich auch! Ich schaute mir die Waren in den Regalen an - und erstarrte. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich einen Mann mit leuchtenden Augen, der mich anstarrte. Er stand an einer Zapfsäule und konnte den Blick einfach nicht mehr von mir abwenden. Jetzt wurde die Sache ein wenig unheimlich! "Sehen Sie das auch?", fragte ich den Angestellten der Tankstelle. "Was sollte ich denn sehen? Da draußen ist niemand." Aber ich sah denn Mann genau in meinen Augen! Er war da! Ich ging mit dem Verkäufer nach draußen - ich erschreckte mich schon, als sich die Schiebetür öffnete - und der Mann war verschwunden! "Da ist niemand, sagte ich doch schon.", meinte der Verkäufer. Seltsam! Der Rettungsdienst traf ein und brachte uns nach hause. Das war eine aufregende Nacht!

Jasper hatte Ralf von dem Unfall erzählt, allerdings ohne die Stelle mit dem Mann.

Sonntag, der 15.

Ich habe den Mann heute wieder gesehen! Er war eindeutig an meinem Zimmerfenster gewesen. Ich saß noch spät abends an den Hausaufgaben, als er wieder auftauchte. Ich habe sofort nach meinen Eltern gerufen, doch da war er schon wieder verschwunden. Bin ich verrückt?

Mittwoch, der 18.

Das war der Tag, an dem Jasper verschwunden war!

21:17

Der Mann ist wieder da! Er lauert mir vor unserer Haustür auf! Ich werde heute niemanden rufen, sondern allein zu ihm gehen und ihn verfolgen. Ich werde nun alles live ins Tagebuch schreiben, falls ich verschwinden sollte. Ich... Der Mann bewegt sich! Er geht vom Haus weg! Ich werde ihm einen leichten Vorsprung lassen, bis ich ihm folge.

21:25

Ich nehme die Verfolgung auf.

21:50

Der Mann betritt den Stadtpark - was will er nur dort?

Und so ging es mehrere Stunden weiter - Jasper notierte jeden Anhaltspunkt. Doch um 23:40 ereignete sich die Wende.

Der Mann dreht sich um! Er rennt auf mich zu! Ich muss fliehen!

Jasper schrieb nun keine Uhrzeiten mehr auf - anscheinend war ihm das nicht mehr wichtig.

Ich bin nun wieder zuhause angekommen. Aber ich muss weiter laufen! Ich nehme mein Fahrrad!

Ich bin mit meinem Fahrrad nun an einem alten Schuppen angekommen.

Ich habe mich im Haus verbarrikadiert. Hier kommt er nicht rein.

Ralf las nun die letzten Worte des Tagebuches:

Ralf, er steht hinter dir!

<Eine kurze Spannungspause>

Erst nach wenigen Augenblicken verstand Ralf den Satz. Hastig drehte er sich um - und sah Jasper mit einem Partyhut vor sich stehen. "Reingefallen! Alles Gute zum Geburtstag, Ralf!" "Mann! Hast du mich erschreckt!", erwiderte Ralf. "Sag bloß, das war nur ein Scherz?!", fügte er hinzu. "Genauso ist es!", lachte Jasper.

Am Abend stellte sich heraus, das Jasper extra die Schule geschwänzt hatte, um Ralf reinzulegen. Außerdem hatte er eine Überraschungsparty mit Ralfs wenigen Freunden organisiert. Gemeinsam saßen die Freunde im Wald, aßen Stockbrot und lachten. Ralf dachte darüber nach, woher Jasper gewusst hatte, das Ralf ihn ausgerechnet am Freitag - seinem Geburtstag - verfolgen würde, da Jasper schließlich bereits am Mittwoch "verschwunden" war - als Ralf plötzlich von weißen Augen in der Ferne aus seinen Gedanken gerissen wurde.