Eure Geschichten

Lie­ra und die ge­hei­me Bi­blio­thek

Die Welt der Meers

Liera hielt den Atem an als sie die Treppe hinunterschlich. Vorsichtig tastete sie sich Stufe um Stufe weiter nach unten. Ihr Haar konnte ihr in diesem Moment nicht weiterhelfen: sie hatte es unter ein Tuch gestopft um das Leuchten zu ersticken. Überhaupt waren Lieras Haare eigenartig. Sie waren nicht weiß wie die der meisten anderen Meers, sondern braun und wenn Licht auf sie fiel, schillerten sie bunt. Natürlich gab es auch unter den Haaren der Meers Verschiedenheiten, so hatten manche z.B. hellblonde Haare oder ganz selten gab es auch welche, deren Haare eine Art goldenen Ton hatten, aber braune Haare waren sehr, sehr ungewöhnlich. Von wem sie die hatte, wusste Lierea nicht. Sie lebte bei ihrer Tante und hatte ihre Eltern nie kennen gelernt.

Doch das Mädchen wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie plötzlich jemand von hinten packte. Erschrocken drehte sie sich um, aber es war bloß ihr Cousin Phil. „Gehst du wieder zu den Büchern?“, fragte er mit großen Augen. Hektisch sah sie sich um, ob sie auch niemand belauschen konnte, dann nickte sie. „Kannst du mir dann wieder eine Geschichte erzählen?“, fragte der kleine Junge weiter. Liera lächelte und nickte. „Mach ich“, versprach sie, „aber jetzt musst du mich gehen lassen. Sonst schaffe ich es nicht mehr.“ Im schwachen Schein von Phils Haaren konnte sie ein Lächeln auf seinem kleinen Gesicht sehen, dann schlich er die Treppe hinauf in sein Zimmer und Liera setzte ihren Ausbruch fort.

Den Büchern entgegen 

Als sie auf der Straße angekommen war, riss sie sich das Tuch vom Kopf und begann nach oben zu schwimmen. Eine kalte Strömung half ihr dabei. Ein U-Boot der Menschen hätte für Lieras Vorhaben mehrere Stunden gebraucht, aber Meers können viel schneller schwimmen - viel, viel schneller. Nach nur einer Stunde hatte sie schließlich die Küste erreicht. Immer wieder aufs Neue war das Mädchen von den vielen Farben und dem Licht hier begeistert - und dabei war es noch immer dunkel. Schließlich holte sie noch einmal tief Luft, dann stieg sie aus dem Wasser. Liera war sich vollkommen bewusst, dass das, was sie hier tat, nicht nur strengstens verboten war, ein Meer durfte sich zur Sicherheit gerade mal bis zur Mitternachtszone begeben, sondern rein theoretisch auch völlig unmöglich. Ein Meer konnte das Wasser nicht verlassen, er würde keine Luft mehr bekommen, ganz wie ein Mensch unter Wasser. Aber sie konnte es. Und zudem war sie ziemlich dankbar dafür. Denn nur so hatte sie die Möglichkeit zu lesen, denn unter Wasser gab es nur sehr wenig Bücher und die waren sehr teuer. Als Autor oder Autorin konnte man dort kein Geld machen. Also stieg sie aus dem Wasser und stapfte den Strand entlang zu einem kleinen Buchladen.

Lieras Kleider trieften, als sie durch ein offen stehendes Kellerfenster des Wohnblockes stieg. Dann schlich sie durch einen schmalen Gang, der schließlich vor einer massiven Holztür endete. Der Besitzer des Buchladens glaubte, sie sei immer verschlossen, aber Liera hatte schnell rausgekriegt, wie man eine Tür auch ohne  Schlüssel öffnen konnte. So stieg sie eine feuchte Treppe hoch und gelangte schließlich zu einem kleinen Hinterzimmer. Nun musste sie nur noch durch eine kleine Tür gehen und dann stand Liera im Buchladen. Sie seufzte glücklich beim Anblick der vielen Bücher, verschwendete aber nicht viel Zeit, sondern rannte gleich zu einem besonders großem Bücherregal hin und zog eines der Bücher raus, das sie schon angefangen hatte und versank sogleich in der Welt der Geschichten.

Die Verfolgungsjagd

Liera schreckte hoch, als jemand den Laden betrat. Ein großer Mann kam herein und knallte eine Aktentasche auf den Tisch. Dann entdeckte er Liera, die versucht hatte, den Raum unbemerkt zu verlassen. „Du“, brüllte er und seine Augen wurden groß, „ich habe dich gestern auf der Überwachungskamera gesehen. Stehen bleiben oder ich rufe die Polizei!“ Liera dämmerte, dass er die Polizei früher oder später eh einschalten würde. Und ihr Unterbewusstsein sagte ihr, dass sie lieber die Beine in die Hand nehmen sollte, was sie auch tat. In einem Affentempo ging es die Kellertreppe hinunter, den Gang entlang und anschließend zwängte sie sich durch das kleine Fenster.

Keuchend rannte sie die Hauptstraße entlang, der Ladenbesitzer war immer noch dicht hinter ihr. Er brüllte ihr irgendwas zu, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Liera wusste, dass es bis zum Strand noch zu weit war, dieses Tempo würde sie bis dahin nie halten können. Ihre einzige Chance war der Wald, Liera hoffte ihren Verfolger dort abhängen zu können. Im Zickzack ging es durch die Bäume, aber kein Erfolg, ihr Verfolger blieb hartnäckig. Plötzlich lichtete sich der Wald und Liera musste eine Vollbremsung hinlegen, um nicht eine Klippe hinunterzustürzen. Sie saß in einer Falle. Hinter ihr der tiefe Abgrund und vor ihr der wütende Ladenbesitzer. „Gib mir das Buch, Mädchen, und komm mit! Ich will nicht, dass einer von uns die Klippe hinunterfällt!“ Liera schaute auf ihre Hände und stellte fest, dass sie das Buch, in dem sie gelesen hatte, immer noch in den Händen hielt. Wortlos überreichte sie es ihm. „Sehr schön!“, sagte der Ladenbesitzer erfreut, „und jetzt komm mit!“ Liera schüttelte den Kopf. Ihr Herz hämmerte. Und dann sprang sie.

Das Wasser kam mit einer furchtbaren Geschwindigkeit auf sie zu. Dann tauchte sie ein. Glücklicherweise war das Wasser an dieser Stelle tief genug, sonst wäre sie wahrscheinlich jetzt bloß noch Mus. Schnell tauchte sie wieder auf und schwamm ein ganzes Stückchen über Wasser, nur, um dem Mann zu zeigen, dass es ihr gut ging, dann tauchte sie ab und verschwand in den Tiefen des Ozeans.

Erwischt! Und jetzt?

Keuchend kam Liera im Klassenzimmer an und ließ sich auf ihren Platz neben ihrem besten Freund Timo plumpsen. Der schaute sie fast etwas vorwurfsvoll an. „Du warst wieder an Land!“, stellte er fest. Liera schaute ihn verwirrt an: „Woher weißt du das?“ Timo grinst: „Das wusste ich nicht, das war geraten. Du hast es jetzt aber bestätigt!“ Sie warf ihm einen bösen Blick zu, dann meinte sie: „Naja, für die nächste Zeit hast du eh Ruhe. So schnell kann ich nicht wieder zu dem Laden." Jetzt war es Timo, der sie verwirrt anschaute: „Wieso? Immerhin bist du die einzige Meer, die über Wasser atmen kann!“ Liera holte Luft: „Naja, ich habe mich vom Ladenbesitzer erwischen lassen.“ „DU HAST WAS?!“, explodierte Timo und lief sofort rot an, als sich die gesamte Klasse zu ihnen umdrehte. „Ich meine, du hast was getan?!“, flüsterte er. Liera verdrehte die Augen: „Ich habe mich vom Ladenbesitzer erwischen lassen. Ist das deutlich genug?“ Ihr Freund wollte schon mit einer kleinen Standpauke beginnen, aber zu Lieras Erleichterung kam in diesem Moment ihr Lehrer in den Raum.

Die nächsten Wochen wurden schwer für Liera. Sie traute sich nicht mehr nach oben zu Schwimmen, doch zugleich vermisste sie auch das Licht, was es dort gab. Hier unten in den Tiefen der tiefsten Tiefsee gab es kein Licht, außer der Schein der Haare. Die anderen Meers störte das nicht, sie kannten es nicht anders. Aber Liera wusste, wie eine Welt voller Farben und Licht aussah, und sie konnte nicht verstehen, warum ihr Volk sich so tief unten versteckt halten musste. „Wenn ich doch wenigstens etwas zum Lesen hätte“, klagte sie bei Timo, „aber Papier hält unter Wasser leider keine drei Sekunden. Und so etwas wie eine Bibliothek oder einen Buchladen gibt es hier schon gar nicht!“ Timo kratzte sich am Kopf: „Also ich habe noch nie von so etwas wie einem Buch gehört, geschweige denn von einem Buchladen. Aber ich glaube, ich habe schon mal auf den alten Steintafeln auf unserem Dachboden etwas von einer Bibliothek hinter den Rauchfeldern gelesen. Ich glaube…“, aber dann hielt er irritiert inne. Denn seine Gesprächspartnerin war verschwunden. Sie verschwand so schnell es ging, die Straße runter, und rief ihm noch ein eiliges „Tschüss“ zu, bevor sie um die Ecke verschwand.

Ein Weg durch die Rauchfelder

In Lieras Kopf wirbelten die Gedanken nur so umher. Konnte es sein, dass es stimmte, was Timo gesagt hatte? Gab es hinter den Rauchfeldern wirklich eine Bibliothek? Eine Eröffnete sicher nicht, wer würde schon so blöd sein und hinter den Rauchfeldern eine Bibliothek eröffnen! Die Rauchfelder waren riesige Felder voller Vulkane. Sie waren furchtbar gefährlich, wenn man nicht wusste, wo man langgehen konnte, ohne vergiftet zu werden, deswegen waren sie auch strengstens verboten. Nur Liera und Timo wussten den Weg hindurch, nachdem Timo auf dem Dachboden eine in eine hauchdünne Steinplatte geritzte Karte gefunden hatte. Die gab es nun allerdings nicht mehr: Timo war sie runtergefallen. Liera kannte denn Weg trotzdem im Schlaf. Sehr oft war sie dort gewesen, es war einmal eine Art Geheimversteck gewesen (bis ihnen einmal ein Riesenkrake, der von einem Wal verfolgt wurde, ihnen dort über den Weg geschwommen war, danach hatten sie sich versprochen, nie wieder dahin zurückzukehren). Allerdings lagen die Rauchfelder in einer riesigen Schlucht, bloß, dass am Ende dieser Schlucht eine Sackgasse war. Aber vielleicht hatte sie ja etwas übersehen?

Sie schwamm durch die Vulkane hindurch bis zu ihrem alten Lieblingsplatz. Hier sah es immer noch aus wie früher: nichts als der nackte Meeresboden und nicht weit von der Felswand. Das einzige auffällige war ein Felsvorsprung, der schräg zur Wand abstand. Liera erinnerte sich, dass er auch früher schon da gewesen war, sie sich aber nie viel um ihn gekümmert hatten. Neugierig trat sie näher und schaute an seine Rückseite. Vor Erstaunen riss sie den Mund auf. Denn dort konnte man einen schmalen Gang ausmachen! „Und? Was gefunden?“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um, aber es war bloß Timo. „Mensch, musstest du mich so erschrecken?“, sagte sie. „Tja, du bist ja auch einfach weg. Aber was ist jetzt. Willst du jetzt da durch?“ Liera nickte und verschwand. Timo folgte ihr.

Eine ganze Zeit lang ging es durch den dunklen Gang. Dann schien er plötzlich zu enden, aber genau konnte Liera es nicht sehen, ihre Haare erhellten die Umgebung zu wenig. „Timo, komm mal her! Hier ist glaube ich was!“, wisperte sie. Timo glitt neben sie und seine Haare erhellten die Umgebung. Lieras Atem stockte. Vor ihnen erhob sich ein riesiges Gebäude in Form eines Ringes. Man könnte es ein bisschen mit einem gesunkenen  Ufo vergleichen. Bloß, dass es nicht neu aussah. Auf seinem Dach hatte sich Sand und Schlick abgesetzt und unzählige Laternenfische schwammen um es herum. „Wow“, sagte Timo, „das hätte ich nicht erwartet.“ Liera war schon einen Schritt weiter. „Was steht da?“, fragte sie und deutete auf eine große Inschrift auf der Vorderseite des Gebäudes. Timo kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. „Sieht aus wie eine Mischung aus Meerisch, Flüssisch und Seeisch. Die beiden kurzen Worte am Anfang und in der Mitte, das ist Seeisch. Ja und das zweite Wort ist ja Meerisch, da kannst du ja selbst lesen, dass das Bibliothek heißt. Und das Letzte, das ist Flüssisch. Aber mehr weiß ich auch nicht.“ Liera überlegte kurz: „Na schön, ich gehe trotzdem rein. Kommst du mit?“ Timo schluckte. „Ja, sicher“, sagte er heiser.

Es kribbelt...

Die Tür der Bibliothek war nicht abgeschlossen, Liera konnte ganz einfach eintreten. Ihr erster Eindruck war, dass es dunkel war, denn vor ihren Augen herrschte komplette Schwärze. Hinter ihr wimmerte Timo: „Wieso machen wir das eigentlich? Doch nicht etwa wegen ein paar blöden Büchern?“ Liera drehte sich zu ihm um, auch, wenn sie ihn nicht sehen konnte. „Doch nicht wegen Büchern“, sagte sie, als wäre das das Selbstverständlichste der Welt, „sondern wegen dem Abenteuer!“ Auf einmal hielt sie inne. „Merkst du das auch?“, fragte sie. „Was?“ „Na das!“ „Was denn?!“ „Es kribbelt irgendwie alles an mir. Es fühlt sich an, als würde ich mich auflösen!“ Und dann löste sie sich auf.

Liera hatte das Gefühl, durch flüssigen Schleim zu sinken. Alles um sie herum fühlte sich seltsam glibberig an. Als sie die Augen öffnete, starrte sie direkt in das Rohr einer Kanone, dann wechselte das Bild und vor ihr stand ein Schaf. Kurz darauf befand sie sich in einer hell erleuchteten Höhle. Dann in einem Gefängnis der Meers. Die Bilder zischten an ihr vorbei, während sie fiel. Die unterschiedlichsten Szenen und Menschen, einmal konnte Liera sogar sich selbst sehen. Doch irgendwann schloss sie die Augen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so gefallen war, aber sie war plötzlich unendlich müde. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

Als sie wieder aufwachte, befand sie sich auf einem kalten Metallboden. Neben ihr lag Timo, auch er rappelte sich auf. „Was war denn das?“, fragte Timo. „Ich weiß es nicht“, gestand Liera. Sie war schon dabei sich umzuschauen. Der Raum in dem sie standen, war so rund, wie die vermeidliche Bibliothek von außen. Auf der äußern Seite gab es riesige Wände, die aussahen, als bestünden sie aus Wasser. Als Liera sie berührte, stellte sie fest, dass sie aus dem gleichen Material waren, wie das, durch das sie gefallen waren. Über sie flackerten unzählige Bilder.

Momente nochmal erleben

Dann fiel ihr noch etwas auf: um sie herum war kein Wasser. Aber wie konnte Timo hier dann atmen. Sie drehte sich zu ihm um und stellte fest, dass sich um seinen Kopf eine Kugel aus Wasser gebildet hatte. Um ihren Kopf hatte sich keine gebildet, aber die Wasserkügelchen flimmerten um sie herum, als seinen sie sich nicht ganz sicher, was sie tun sollten. „Is ja krass“, meinte Timo plötzlich. „Dieser Opa, den ich gestern gesehen habe, ich habe an ihn gedacht und dann hat sich hier ein Bild aufgetan und ich kann ihm nochmal beim in der Nasebohren zusehen!“ Er verzog das Gesicht, als würde er sich furchtbar konzentrieren, und dann strahlte er: „Liera schau mal!“ Er sah aus wie ein Kind, das gerade ein besonders tolles Geburtstagsgeschenk geöffnet hat. „Ich kann den Moment nochmal aufrufen, als ich dem blöden Colin eine reingegeben habe.“ Er stellte sich vor die Wand und machte Boxbewegungen in die Luft. Dann fasste er sich wieder. „Los, versuch es auch mal!“, forderte er sie auf.

Liera schloss die Augen und konzentrierte sich. Als sie sie wieder öffnete, zeigte die Glibberwand vor ihnen ein ihr vertrautes Wohnzimmer. „Woran hast du gedacht?“, fragte er sie. „An meine Mutter.“ „Oh.“ Die Tür des Bildschirmzimmers ging auf. Zwei Frauen traten herein. Die eine war Lieras Tante. Sie diskutierten heftig: „Elli, ich lass nicht zu, dass du einfach verschwindest. Da draußen holen sie dich ganz bestimmt!“ „Da draußen bin ich sicherer als hier. Sie wissen wo ich bin!“ „Aber niemand würde dich deswegen umbringen!“ „Mensch Tara, verstehst du nicht? Diesen Leuten ist es egal, was ich getan habe. Ich war bloß perfekt, damit sie ihren Hass auf mir abladen konnten, weil ich tatsächlich etwas Unerlaubtes gemacht habe.“ „Und was ist mit Liera? Sie ist gerade mal sechs Monate alt!“ „Liera wird sie nicht interessieren, wenn ich weg bin. Ihr seid alle sicherer ohne mich.“ „Dann gehen wir morgen zur Polizei. Die werden dich schon beschützen. Und das Geld, was du Strafe zahlen musst, gebe ich dir. Einverstanden?“ Lieras Mutter überlegte sehr lange. Dann seufzte sie tief: „Einverstanden. Aber wenn sie mich kriegen, versprichst du mir, dass du dann auf Liera aufpasst?“ Tara lächelte und nickte: „Natürlich.“ Dann wechselte die Szene.

Mama?

Sie befanden sich in einem dunklen Raum. Der einzige Lichtschimmer kam von den kurzen  braunen Haaren eines Babys. Er kam von Liera. Dann ging die Tür auf und Ella kam herein. Sie schlich zu Lieras Bett und hob sie hoch und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Anschließend legte sie sie wieder zurück in ihr Bett und verschwand. Die Szene endete und auf der Wand vor ihr tauchten wieder bunt zusammengewürfelte Bilder auf. Liera saß auf dem Boden und starrte sie immer noch an. In ihren Augen glitzerte eine Träne. „Wo bist du bloß jetzt, Mama?“, flüsterte sie. „Ich bin hier, Liera“, sagte jemand hinter ihr. Abrupt drehte sie sich um. Vor ihr stand die Schwester ihrer Tante, die Frau aus der Szene eben, ihre Mutter. Sie sah älter aus, aber es war trotzdem unverkennbar ihre Mutter. „Wie…?“, fragte sie. „Ich kenne den Ort schon seit einer ganzen Weile“, erklärte sie. „Er war mein Rückzugsort.“ „Du bist also vor den Straßenbanden entkommen?“, bohrte Liera weiter nach. „Offensichtlich ja.“ „Aber was oder wer ist bloß daran Schuld, dass sie dich erst so gejagt hatten?“ „Ich fürchte, dein Vater.“ „Was hat denn mein Vater mit all dem zu tun?“ „Nun, er war ein Mensch.“ Das musste Liera dann doch erstmal verdauen. „Ein Mensch?“, fragte sie vorsichtig. Ihre Mutter nickte. „Aber konntest du dann auch an die Oberfläche?“ Ihre Mutter schüttelte denn Kopf: „Nein, aber ich war sehr oft oben in den Korallenriffen. Dein Vater war Taucher. So haben wir uns kennengelernt. Am Anfang, als er meinen Namen noch nicht wusste, hat er mich immer Arielle genannt. Ich habe ihn wohl an irgendwas erinnert“, erinnerte sie sich lächelnd. „Deswegen kann ich also auch über Wasser atmen!“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrer Mutter. „Wieso bist du nie zurückgekommen? Die haben doch inzwischen bestimmt vergessen, dass es dich gibt!“ Ihre Mutter schaute zu Boden. „Ich hatte Angst davor, was Tara sagen würde. Immerhin war ich einfach so abgehauen und sie hatte nichts mehr von mir gehört. Vier Jahre hatte ich mich schon verstecken müssen, als ich es in Erwägung ziehen konnte zurückzugehen.“ „Ich dachte immer, du wärst tot!“, sagte sie leise. Stille trat ein.

„Tja, ihr geht dann jetzt wohl besser. Deine Tante macht sich sicher schon Sorgen um dich, Liera. Vielleicht willst du sie ja von mir grüßen“, ergriff Lieras Mutter schließlich das Wort. Sie versuchte zu lächeln, aber so ganz gelang es ihr nicht. Liera sah fast empört aus „Denkst du, ich gehe jetzt ohne dich? Du kommst schön mit, Mama! Schon allein damit du mir sagen kannst, wo ich Papa finde! Und was Tara angeht: Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sehr froh sein wird, wenn eine Schwester, die sie für tot gehalten hat, wieder auftaucht!“ Jetzt lächelte ihre Mutter: „Na wenn das so ist, dann darf ich wohl nicht nein sagen!“

Sie hatten die Rauchfelder schon hinter sich gelassen, als Timo plötzlich meinte: „Oh man! Wir haben eine Bibliothek gesucht und haben herausgefunden, dass Lieras Vater ein Mensch ist und ihre Mutter noch lebt, das ist krass! Aber warum steht auf diesem komischen Ding eigentlich Bibliothek?“ Ella lachte: „Das 'komische Ding' ist tatsächlich  eine Bibliothek. Man nennt sie auch die Bibliothek der Zeit.“ Timo überlegte: „Die Bibliothek der Zeit! Wir waren in der Bibliothek der Zeit.

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Eure Kommentare

Sehr tolle Geschichte!

Wow, ich finde die Idee hinter der Geschichte sooo gut und du hast es auch sehr spannend geschrieben!