Nur ei­ne (fast) nor­ma­le Ma­ry Sue - Ka­pi­tel 1: nur ein (fast) nor­ma­ler Mor­gen

Keine Mary-Sue!

Es ist ein lauer Frühlingsmorgen und die Häuser der Eichenalle liegen friedlich in der Sonne, als würden sie in allen Spaziergängern, die zufällig vorbeikommen könnten, den Eindruch erwecken wollen, dass in dieser kleinen, niedlichen Straße niemand auch nur einer Fliege etwas zu Leide tun könnte. Was, wenn man es recht bedenkt, nicht wirklich stimmt. Schließlich weiß hier absolut jeder, dass Herr Müller gnadenlos alle Fliegen, die auch nur in die Nähe seines unscheinbaren, grauen Hauses kommen, mit seiner Quietscheentchengelben Fliegenklatsche durch seinen gepflegten, ziemlich langweilichen und sehr gut zu ihm passenden Garten jagt und dabei so einen Krach veranstaltet, dass Frau Schmidt, die nette alte Dame, die direkt neben ihm wohnt, einmal beinahe die Polizei gerufen hätte, was ihr auch niemand verübeln kann. Denn Herr Müllers Geschrei, so von wegen „Ich kriege euch, ihr nervigen, gemeingefährlichen, kleinen Monster!“ und „Ihr entkommt mir nicht, ihr widerwärtigen Vieher!“ war wirklich furchteinflößend. Und wie er dabei mit der Fliegenklatsche in der Luft herumgefuchtelt hat – einfach zu komisch.

Jetzt allerdings ist es geradezu gespenstisch leise, vermutlich, weil Herr Müller noch in seinem Bett liegt und von einer riesengroßen und sensationellen Fliegen-Abwehr-Maschiene träumt. Aber es bleibt nicht lange so leise. In der Nummer 13, einem süßen, kleinen, gelb angestrichenen Haus mit Blumenläden an den Fenstern, klingelt ein Wecker. Einfach, weil am Anfang einer Geschichte immer der Wecker kingeln muss, damit die Protagonisten aufwachen und in an die Wand oder aus dem Fenster werfen kann, wo er dann bestenfalls der netten Nachbarin, die gerade mit ihrem Hund Gassi geht, auf den Kopf fällt. Allerdings ist es auch nicht immer so einfach, eine Protagonisten zu wecken. Diese hier zum Beispiel braucht ganze sechsundvierzig Sekunden, bis sie sich endlich dazu erbarmt, einmal kräftig auf dieses nervige Ding, das dafür verantwortlich ist, sie pünktlich um halb sechs zu wecken, zu hauen.

Charlotte Weber braucht immer so lange zum Aufstehen, was vermutlich auch der Grund dafür ist, dass noch nie jemand eine Geschichte über sie schreiben wollte. Wenn die Protagonistin so lange braucht, um den armen Wecker k.o. zu schlagen, dann ist  doch die ganze Dramatik weg. Und wer will schon eine langweilige Geschichte lesen? Mal ganz zu schweigen davon, dass Cherry, wie sie von ihren Freunden liebevoll genannt wird, morgens nur eine Stunde im Bad braucht, wo doch jede normale Mary Sue mindestens doppelt so viel Zeit dafür einplanen muss. Kurzum, Cherry ist so ziemlich die schlechteste Mary Sue, die mir jemals begegnet ist. Es ist beinahe schon ein Wunder, dass noch niemand sie auf der Müllkippe für verunglückte, missratene und schlecht umgesetzte Mary Sues ausgesetzt hat. Vor allem ist Cherrys Leben aber auch so uninteressant, dass es kaum noch auszuhalten ist: während andere Sues ständig dabei sind, die Welt vor schrecklichen Gefahren und Katastrophen zu retten, schlägt sich Cherry jeden Tag mit langweiligen Dingen wie nervigen Lehrern, doofen Mitschülern und überfürsoglichen Eltern herum. Und mal ganz ehrlich, wir alle wissen, dass die Leute lieber solche Geschichten lesen, in denen die Protagonistin sowas wie die Königin der Welt ist, der die gesamte Menschheit nach ihren gutherzigen, wunderbaren und großzügigen Taten zu Füßen liegt und in denen nur diese eine, diese bezaubernde Mary Sue, die Welt retten kann. Da kann Cherry noch so nett, hübsch, klug, freundlich und großherzig sein, neben den ganzen Super-Sues kann sie gleich einpacken. Oh, apropos Cherry, wie ich sehe hat sie sich gerade schweren Herzens dazu entschlossen, ihr gemütliches Bett zu verlassen und ist nun auf dem Weg zum Bad, bereit, in einen einzigartigen und ganz und gar besonderen Tag zu starten.